Das innige Gespräch mit der eigenen Mutter: André Hellers Buch „Uhren gibt es nicht mehr“
Im Buch „Uhren gibt es nicht mehr“ stellt der Schauspieler und Chansonneir André Heller seiner über 100 Jahre alten Mutter, der „Jahrhundertfrau“ Elisabeth Heller, Fragen zu ihrem Leben. Die innigen Gespräche berühren und sind ein wunderbares Beispiel für ein gelungenes Interview unter Familienangehörigen. Voller Poesie und Humor. Schnörkellos, ehrlich und sehr menschlich. Ich bin auf André Hellers Buch „Uhren gibt es nicht mehr“ im Gespräch mit meiner Kollegin Veronika Weiss aufmerksam geworden. Das Buch hat mich bewegt, weil es unkonventionell und aufrichtig ist. Eine Empfehlung mit kurzen Auszügen:
„Ein besonders schönes Wort? Schön ist ein besonders schönes Wort.“
André Heller ist Ende 60, als er seine betagte Mutter regelmäßig besucht, um mit ihr an dem Buch zu arbeiten. Seine erste Frage lautet: „Möchtest du mir etwas sagen?“, eine Gesprächseröffnung harmlos und angriffslustig zugleich. Heller hat nichts geplant, kein Thema vorbereitet. Er geht völlig frei mit seiner Mutter ins Gespräch. Er stellt überraschende, verschmitzte, interessierte und ungeschminkte Fragen. Elisabeth Heller antwortet originell, ungeniert, manchmal kurz und knapp.
André Heller: Du hast doch immer und zu Recht als Schönheit gegolten.
Elisabeth Heller: In meiner Generation war ich die Riesin, später sind die Mädeln nachgewachsen, und heute gibt es Mannequins, die sind einen Meter fünfundneunzig.
André Heller: Aber dein Spitzname war Hasi. Das steht doch für etwas Kleines, Zartes.
Elisabeth Heller: Weil ich so scheu und zaghaft und verschreckt war. Nicht besonders lange, aber der Name ist mir geblieben.
André Heller: Ich kenn dich fast nur sehr energetisch, sportlich und jahrzehntelang völlig überflüssigerweise opportunistisch.
Elisabeth Heller: Ich bin konfliktscheu, aber sonst nicht feig.
In einer ganz selbstverständlichen Art und Weise erfragt André Heller mehr Details aus dem Leben seiner Mutter. Und das funktioniert. Elisabeth Heller fühlt sich ermutigt und gehört, das merkt man den Gesprächen an. Sie darf sagen, was auch immer ihr einfällt. Auch die Vergesslichkeit hat Platz und die Eigensinnigkeit im Denken und der Wortwahl dieser beeindruckenden Frau.
Es geht darum Erinnerungen herauszuarbeiten, aber auch darum gegenwärtigen, ganz subjektiven Betrachtungen und Empfindungen, sowie Elisabeth Hellers Erwartungen an die Zukunft, den Tod und das Jenseits Raum zu geben.
„Ich liebe Dich, Mami.“
Die Atmosphäre zwischen den beiden ist – ganz gleich, wie bedeutsam die Themen sind – entspannt und von Vertrauen und Akzeptanz geprägt. Es herrscht eine faszinierende Offenheit, ohne Tabus. Es wird nicht gewertet. Die beiden kreisen gemeinsam um Gedanken und Geschehnisse. Die alte Dame gibt viel von sich Preis und darauf stellt sich André Heller liebevoll und wertschätzend ein.
André Heller: Möchtest du mir etwas sagen?
Elisabeth Heller: [Lange Pause] Es gibt einen Durchschlupf.
André Heller: Wo?
Elisabeth Heller: In mir. Man zieht sich ganz in sich zurück und sammelt sich vor dem Durchschlupf.
André Heller: Du meinst einen Ausgang für die Seele? Man verwschwindet auf diese Weise aus dem Körper?
Elisabeth Heller: Wahrscheinlich. Man kann ihn benützen oder nicht. Aber es gibt ihn, und ich weiß es.
André Heller: Wie hast du ihn gefunden?
Elisabeth Heller: Durch nicht suchen. Er war einfach da.
André Heller: Ich glaub dir hunterprozentig.
André Heller stellt im Laufe der Gespräche auch Fragen, die man als provokant oder ironisch wahrnehmen könnte. Dabei wird er aber nie zu eindringlich. Oft kann er dadurch den Gesprächen eine neue Richtung, einen neuen Impuls geben. Und immer lässt er beim sanften Fragen durchblicken, dass er jederzeit auch Elisabeths Schweigen als mögliche Antwort akzeptieren würde.
„Da fällt mir nix ein, aber wahr ist es trotzdem.“
„Uhren gibt es nicht mehr“ mit seinen kurzweiligen 100 Seiten enthält viele Anregungen für all jene von Ihnen, die planen, im biografischen Interview ihre Verwandten zum Erzählen anzuregen. Auch den Menschen, die sich auf ihr eigenes biografisches Interview vorbereiten, wird das Buch Orientierung, Mut und Selbstvertrauen geben können.
André Heller hat ein berührendes Dokument geschaffen, das er in Auszügen mit der Schauspielerin Elisabeth Orth auch als Hörstück vertont hat. Seine Mutter Elisabeth Heller starb 2018, wenige Monate nach der Veröffentlichung des Buches. Die Gespräche sind über einen Zeitraum von vier Monaten entstanden.
André Heller: ... Was hälst du für eine wirklich wichtige Charaktereigenschaft?
Elisabeth Heller: Ich glaube, Verständnis wäre gut, man ist so oft unverständig.
André Heller: Was noch?
Elisabeth Heller: Dass man schwimmen kann, sonst geht man unter.
André Heller: Fällt dir noch was ein?
Elisabeth Heller: Genießen ist gescheit. Das Schöne auskosten.
Ich habe mir einige Details das Gespräch zu führen, zu fragen und zuzuhören von André Heller abgeschaut. Fragen müssen nicht immer neue Welten auftun und riesige neue Themen anstoßen. Oft genügt es, kleine Impulse zu setzen. André und Elisabeth Heller haben mich jedenfalls als Audiobiografin und Familienmensch berührt.
Sollten Sie selbst mit dem Gedanken spielen, ein Interview mit einem Familienmitglied aufzuzeichnen, könnte Ihnen mein Seminar "Familienerinnerungen als Hörbuch" eine Starthilfe sein. Gerne berate ich Sie auch persönlich. Aber nun: Viel Freude beim Lesen.
Ihre Helen Hahmann